18. November 2020 Nathanea Elte

Dora Staudinger ist bis heute präsent

Die Historikerin Ruth Ammann portraitiert in ihrer Dissertation Arbeit und Wirken von Dora Staudinger, eine der ersten Frauen im ABZ-Vorstand. Ein Gespräch über Staudingers Wirken, die Rolle der Frau und Genossenschaftsbildung.

Von der Mieterjahresversammlung über die Siedlungskommissionen bis zu den Gemeinschaftsräumen – das Engagement von Dora Staudinger ist bis heute präsent. Die Genossenschafterin und religiöse Sozialistin prägte die ABZ über mehrere Jahre. 1919 wurde sie zusammen mit Rosa Huber und Anna Rüegg in den ABZ-Vorstand gewählt.

Die Historikerin Ruth Ammann* hat sich im Rahmen ihrer Dissertation mit der in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Staudinger auseinandergesetzt.

Auf dem Weg zu einem internationalen Kongress der Frauen gegen Krieg und Faschismus, 1938. Vierte von links: Dora Staudinger.

Frau Ammann, Sie haben Ihre Dissertation über Dora Staudinger geschrieben. Was fasziniert Sie an dieser Frau?

Dass sie sich als Frau in ihrer Zeit so selbstverständlich politisch engagierte. Und dass ich sie zunächst nicht verstanden habe. Ihr Engagement war für mich als Historikerin, aber auch als heutige Feministin sowohl interessant als auch befremdend. Ich verstand nicht, warum sie als religiöse Sozialistin zum Beispiel so enge moralische Vorstellungen hatte. Auch ihre Texte waren mir teilweise fremd, wenn sie von Liebe, Gott und Dienen sprach. Diesem Selbstverständnis wollte ich auf die Spur kommen.

Staudinger war nur kurz im Vorstand der ABZ, aber mehrere Jahre in der Genossenschaft aktiv.

Ja, tatsächlich. Sie wurde am 19. Januar 1919 gewählt und trat im Juni 1920 «aus Gesundheitsrücksichten» bereits wieder zurück. Doch sie war seit Anfang 1918 Mitglied der Genossenschaft und engagierte sich bis 1929 in der einen oder anderen Form in der ABZ, zuletzt als Vertreterin des Kreises 2 in der Frauenkommission. Ihr Engagement erstreckt sich also über viele Jahre.

Staudinger scheint während ihrer Zeit bei der ABZ viel bewirkt zu haben. Wie sehen Sie das?

Zu Beginn gab es in der ABZ durchaus Handlungsspielraum für Frauen im Allgemeinen und Dora Staudinger als Genossenschaftsexpertin im Speziellen. Sie war als Autorin von Flugblättern, Festschriften, Vorträgen und Broschüren sichtbar. Und sie konnte einige ihrer Vorstellungen, etwa die Berücksichtigung von kinderreichen Familien bei der Wohnungsvergabe oder den Bau von Gemeinschaftsräumen in den Siedlungen, mindestens zeitweise umsetzen. Frauen waren zu Beginn der ABZ erstaunlich selbstverständlich Teil des Vorstandes und der Bewegung. Dora Staudinger war nicht allein in diesen Strukturen unterwegs und wurde wohl auch deshalb gehört. Allerdings wurden die Frauen mit zunehmender Bautätigkeit und steigendem Budget schon im Verlauf der 1920er Jahre aus dem Vorstand verdrängt.

«Dora Staudingers Engagement war für mich sowohl interessant als auch befremdend.»

Ruth Ammann

Staudinger war Mitglied der damaligen Propagandakommission**. Sie hat Vorträge für die ABZ gehalten und viel publiziert. Sie schreiben in Ihrer Dissertation: «Sie […] wird das Gesicht bzw. die Autorin der Werbetexte der Allgemeinen Baugenossenschaft Zürich (ABZ) […].» Können Sie uns mehr dazu sagen?

Wie gesagt war sie als Autorin und Rednerin sehr sichtbar. So wird ihr Name etwa zuoberst auf den ersten Flugblättern der ABZ unter den Kontaktpersonen genannt – vor dem Präsidenten. Sicher hat sie selbst auch viele Menschen aus ihrem Bekanntenkreis direkt angesprochen, um sie für die ABZ zu gewinnen. 1918 war Dora Staudinger in Zürich eine relativ bekannte Frau. Sie war mit einem ETH-Professor verheiratet und arbeitete mit linken Politikern, Exponentinnen der Frauenbewegung, Vorstandsmitgliedern des Lebensmittelvereins Zürich und des Verbands Schweizerischer Konsumvereine zusammen, aber auch mit einfachen Genossenschafterinnen und Nachbarinnen, die sich für Konsum- und Wohnfragen interessierten. Viele dieser Menschen wurden Mitglieder der ABZ, nicht zuletzt aufgrund der akuten Wohnungsnot in Zürich und der politischen Brisanz der Wohnungsfrage.

Dora Staudinger war bereits vor ihrem Engagement in der ABZ bekannt als Genossenschafterin und religiöse Sozialistin und bereits früh in der Genossenschaftsbewegung in Deutschland aktiv. Welche Bedeutung hatte das für die ABZ?

Für die ABZ war sie als Propagandistin, die sich gut mit genossenschaftlicher Organisation und deren ökonomischen und politischen Bedeutung auskannte, und als Kontaktperson zu einem breiten Netzwerk innerhalb der linken, konsumgenossenschaftlichen und feministischen Bewegungen wichtig. So war Dora Staudinger etwa langjähriges Genossenschaftsratsmitglied im Lebensmittelverein Zürich, dem LVZ, und Präsidentin der von ihr gegründeten Frauenkommission im LVZ. Und die ABZ arbeitete mit dem Lebensmittelverein Zürich ja eng zusammen: In jeder ABZ-Siedlung gab es in den 1920er-Jahren eine LVZ-Filiale.

«Man könnte sogar sagen, dass Staudingers Engagement in der ABZ Teil ihrer pazifistischen Arbeit war.»

Ruth Ammann

Und wie hat das ihr Wirken geprägt?

Dora Staudinger war aufgrund ihrer Studien klar, dass die Bodenpolitik ein zentraler Schlüssel der Arbeiterinnen- und Arbeiterfrage sein musste: Die genossenschaftliche Organisation bot die Möglichkeit, Boden der Spekulation zu entziehen und die Bedingungen des Wohnens neu und antikapitalistisch zu organisieren. Deshalb war ihr Engagement in einer Wohnbaugenossenschaft eine logische Konsequenz. Die ABZ als allgemeine – also nicht berufs- oder parteigebundene Selbsthilfe – war für sie das ideale Betätigungsfeld, weil sie als Professorengattin Zugang hatte und weil sie mit ihren Überlegungen Arbeiterinnen und Arbeiter, aber besonders auch Frauen aller Schichten ansprechen konnte. Man könnte sogar sagen, dass ihr Engagement in der ABZ Teil ihrer pazifistischen Arbeit war, in einer Zeit, in der die Niederschlagung des Landesstreiks, eine akute Wohnungsnot, die Not der unteren Schichten und bürgerkriegsähnlich Szenarien die Stadt Zürich erschütterten.

Staudinger sagte, die Genossenschaftsbewegung sei eine Bewegung der Frauen. Können Sie das erläutern?

Frauen waren von Lebensmittelpreisen, von der Qualität und der Verteilung von täglichen Gütern, aber auch von hohen Wohnungspreisen und schlechten Wohnverhältnissen besonders betroffen. Sie mussten das Haushaltsbudget einhalten, Lebensunterhalt- und Hausarbeit sowie Kinderbetreuung und -pflege bewerkstelligen – vieles davon in den eigenen vier Wänden. Viele Frauen arbeiteten als Heimarbeiterinnen. Alleinstehende, erwerbstätige Frauen hatten es beim Wohnen ebenfalls besonders schwer. Umgekehrt wussten Frauen über Einkauf und Wohnen am besten Bescheid. Waren Frauen Genossenschafterinnen, konnten sie ihre eigene Situation sowie die ihrer Familie und Nachbarschaft verbessern.

Ferner sprach Dora Staudinger Frauen als politische Akteurinnen an, weil Frauen ein Wissen um Beziehungen und um die Sorge und Versorgung von abhängigen Menschen mitbrachten. Das wurde in der Frauenbewegung als «geistige» oder «soziale» Mütterlichkeit bezeichnet. Nach Dora Staudinger waren die Genossenschaften in der Schweiz zwar erfolgreich, weil sie Kapital akkumulierten und ihre Geschäftstätigkeit ausweiteten. Das reichte jedoch nicht, um einen Wandel in der Gesellschaft herbeizuführen. Die Genossenschaften wirtschafteten nämlich oft an den Frauen und deren Bedürfnissen und damit an einer gerechteren Gesellschaft vorbei. Sollten Genossenschaften als politische Macht und drittes Bein der Arbeiterbewegung wirklich relevant sein, mussten sie die Arbeit von Frauen ins Zentrum stellen. Dora Staudingers forderte demnach, die Genossenschaftsbewegung zu einer Frauenbewegung zu machen, damit Frauen und Männer wirklich Seite an Seite zusammenarbeiten konnten.

«Sollten Genossenschaften als politische Macht wirklich relevant sein, mussten sie die Arbeit von Frauen ins Zentrum stellen.»

Ruth Ammann
Die ABZ hat Dora Staudinger mit der Dora-Staudinger-Strasse in der Siedlung Ruggächern geehrt.

Sie gilt als Pionierin in der Erwachsenenbildung, insbesondere der Frauenbildung. Welchen Fokus hat sie diesbezüglich innerhalb der ABZ gesetzt?

Innerhalb der ABZ fokussierte Dora Staudinger darauf, Genossenschaftsmitglieder zu aktiven Genossenschafterinnen und Genossenschaftern auszubilden. Sie organisierte zum Beispiel Frauen in der «Frauengruppe Oberstrass», die im LVZ und in der ABZ engagiert war, um Frauenfragen und anstehenden Fragen in der jeweiligen Konsum- und Baugenossenschaft zu besprechen. Diese Bildung setzte bei den Teilnehmenden an, vermittelte handfestes Wissen und bot konkreten Austausch und Hilfestellungen in der Genossenschaftsarbeit. Gleichzeitig verfolgten die Bildungsgruppen, was in den Genossenschaften passierte und wo Handlungsbedarf für sie als Mitglieder bestand. Als die ersten ABZ-Siedlungen erstellt waren, gründete Dora Staudinger analog dazu eine Bildungsgruppe für Mieterinnen und Mieter über die Grundlagen genossenschaftlichen Zusammenlebens. Diese trugen ihr Wissen dann wiederum in ihre eigenen Siedlungen zurück, um dort mit Interessierten das Siedlungsleben zu gestalten und Anliegen der Mietenden in die Genossenschaftsorgane zu tragen. Heute übernehmen die Siedlungskommissionen diese Aufgabe. Sie gehen also auf eine Bildungseinrichtung Dora Staudingers zurück.

Was können wir heute noch von Dora Staudinger lernen?

Sich einzumischen und hartnäckig zu sein. Und zwar nicht erst, wenn wir einen Master, einen CAS oder die offizielle Funktion und Verantwortung für eine Aufgabe haben, also die zuständigen «Profis» sind. Sondern indem wir von unserem Alltag und unserer Arbeit im Haushalt und mit unseren Kindern, Kranken und Bedürftigen oder in der Nachbarschaft ausgehen und fragen: Läuft das eigentlich gut?

*Ruth Ammann ist Historikerin, Feministin und Mutter von zwei Kindern. Sie hat zur Geschichte der Frauenbewegungen und des intervenierenden Sozialstaates geforscht und publiziert und lebt seit zwei Jahren mit ihrer Familie in Norwegen. Ende März ist ihre Dissertation über die politische Aktivistin Dora Staudinger beim Schwabe Verlag in Basel erschienen.

**Propagandakommission
Zu ihrer Gründungszeit war die ABZ noch vielen unbekannt. Um für die Genossenschaft zu werben, wurde damals die Propagandakommission gegründet. Das Ziel: Mitglieder zu gewinnen und das Genossenschaftskapital zu vermehren. Zudem sollte die Propagandakommission die ABZ-Mitglieder zu «richtigen» Genossenschafterinnen und Genossenschaftern ausbilden. In diesem Zusammenhang entstanden etwa die Vertrauensleuteversammlung und die Mieterjahresversammlungen.

Fotografie
ABZ, Privatarchiv Luzia Höchli, Privatarchiv Markus und Margaretha Lezzi

Nathanea Elte

ABZ-Präsidentin

Artikel teilen