11. Juni 2020 Ingrid Diener

Wohnen im Hochhaus: gemeinschaftlich oder anonym?

Das Wohnen im Hochhaus ist für uns Schweizerinnen und Schweizer eine Besonderheit, denn wir leben in kleinräumlichen Siedlungsstrukturen. Deshalb: Wie sieht das Leben im Hochhaus aus? Dazu gibt Eveline Althaus* vom ETH Wohnforum Auskunft.

Frau Althaus, in den 1960er- und 1970er Jahre erfuhr die Schweiz einen Bauboom des Hochhauses. Wer wohnte damals in diesen neuen Bauten?

Die Bevölkerung in der Schweiz wuchs zwischen 1950 und 1970 um mehr als einen Viertel, die Wirtschaft boomte. Vor allem in Städten und Agglomerationsgemeinden fehlte es an Wohnraum. Die Hochhäuser richteten sich an den breiten Mittelstand. Denn die Neubauten galten am Anfang als Inbegriff des modernen Wohnens und boten einen Wohnkomfort, der damals nicht für alle selbstverständlich war. Einige Hochhäuser entstanden aber auch gezielt im sozialen Wohnungsbau. So lancierte die Stadt Zürich 1966 eine Wohnbauaktion, die günstige Wohnungen für Menschen mit kleinen Einkommen schuf. In diesem Zusammenhang wurden etwa Unteraffoltern II und Glaubten III gebaut.

Wer wohnt heute in diesen Häusern?

Menschen aus allen Generationen, unterschiedlichen Ländern, mit verschiedensten beruflichen Hintergründen und Lebensstilen. In der Vergangenheit erlebten die Bauboom-Hochhäuser eine Geschichte der Abwertung: Zunehmend zogen benachteiligte Menschen in die Siedlungen – aber nicht nur. Die Belegungsrichtlinien spielen da eine wichtige Rolle. In Unteraffoltern II zum Beispiel hat nach einer Phase der zunehmenden sozialen Segregation eine Mischung aus freitragenden und subventionierten Wohnungen zu einem vielseitigeren Mietermix beigetragen.

«In den Bauboom-Hochhäusern, die ich untersucht habe, schätzen Bewohnerinnen und Bewohner insbesondere die verkehrsfreien Aussen- und Spielräume.»

Eveline Althaus vom ETH Wohnforum

Was sind die positiven Seiten vom Wohnen im Hochhaus?

Im Hochhaus ist man meist von Weite umgeben und sieht in die Ferne, über die Dächer der Stadt oder von den unteren Stockwerken oft ins Grüne. In den Bauboom-Hochhäusern, die ich untersucht habe, schätzen Bewohnerinnen und Bewohner insbesondere die verkehrsfreien Aussen- und Spielräume. Wichtig sind auch gemeinschaftliche Räume und Treffpunkte sowie ein guter Anschluss an die Nahversorgung. Nicht zu unterschätzen sind ausserdem die Nachbarschaftsnetze und die günstigen Mieten, die für Menschen mit kleinen Einkommen unabdingbar sind.

Welche negativen Seiten kann das Wohnen im Hochhaus haben?

Probleme entwickeln sich vor allem, wenn es in Hochhaussiedlungen nur eine Nutzungsmöglichkeit gibt – wenn also neben Wohnungen etwa keine Geschäfte oder Freizeitmöglichkeiten vor Ort existieren – oder wenn nur ein oder zwei Wohnungstypen bestehen, die heutigen Bedürfnissen nicht mehr entsprechen. Schwierigkeiten gibt es auch, wenn die Bausubstanz schlecht ist oder die Überbauungen städtebaulich und sozial im Abseits stehen. In der Höhe zu wohnen ist auch nicht jedermanns Sache. Je nach Bauweise kann es bei einem Sturm schon mal schwanken. Ausserdem ist das Leben im Hochhaus oft ziemlich stark reglementiert, schon nur feuerpolizeilich gibt es viele Vorschriften.

«Schwierigkeiten gibt es, wenn die Überbauungen städtebaulich und sozial im Abseits stehen.»

Eveline Althaus vom ETH Wohnforum
Eveline Althaus hat unter anderem die Siedlung Unteraffoltern II untersucht.

Die Hochhäuser von damals sind vielfach Symbol für soziale Kälte, Verwahrlosung, Anonymisierung. Entspricht das der Realität?

Nein, in den von mir untersuchten Hochhaussiedlungen gibt es vielseitige und gut funktionierende Nachbarschaftsnetze. Gerade langjährige Bewohnerinnen und Bewohner und Familien mit Kindern kennen sich oft oder sind in Kontakt miteinander. In den Bewohnerinterviews haben mir viele gesagt, dass sie anfänglich selbst solche Negativbilder hatten und entsprechend auch Bedenken in ein Hochhaus zu ziehen. Ihre Meinung hätten sie aber schnell geändert. Es ist klar, dass in den Siedlungen soziale Ungleichheiten bestehen. Das einseitige Bild vom anonymen, problembehafteten Hochhausblock wird aber den Lebensrealitäten nicht gerecht.

Auf dem Koch-Areal möchte die ABZ gemeinschaftliches Wohnen im Hochhaus ermöglichen. Was braucht es aus Ihrer Sicht dazu?

Wie in anderen Siedlungen sind auch bei einem Hochhaus verschiedene Nischen und Orte gefragt, in denen Menschen sich wohl fühlen, gerne verweilen oder andere treffen können. Mit einer klugen Architektur lässt sich dies auch in der Vertikalen organisieren. Es braucht nutzungsneutrale Mehrzweckräume. Aber auch Räume, die für spezifische Nutzungsinteressen partizipativ mitgestaltet, angeeignet und auch wieder verändert werden können. Vielseitige Erschliessungsbereiche sind nötig, die Begegnungen fördern – von den Siedlungswegen über die Eingänge und Treppenhäuser bis zum Dach. Wichtig ist auch, dass sich eine Hochhausstruktur zum Quartier hin öffnet und weitere Nutzungen, wie zum Beispiel Cafés, Geschäfte oder Freizeitangebote für eine breitere Öffentlichkeit integriert.

«Es ist klar, dass in den Siedlungen soziale Ungleichheiten bestehen. Das einseitige Bild vom anonymen, problembehafteten Hochhausblock wird aber den Lebensrealitäten nicht gerecht.»

Eveline Althaus vom ETH Wohnforum

Was ist darüber hinaus für eine Gemeinschaft entscheidend?

Für lebendige Nachbarschaften sind auch weiche Faktoren und «Kümmerer vor Ort» gefragt. In grossen Überbauungen kann eine professionelle Moderation dazu beitragen, dass sich Neuzuziehende kennenlernen und sich trotz Differenzen vielleicht besser verstehen, aber auch dass nachbarschaftliche Initiativen entstehen und dass bei Problemen Lösungen gefunden werden. Die ABZ ist hierzu gut aufgestellt.

Was zeigt die Forschung: Wie gemeinschaftlich leben Bewohner/innen in Hochhäusern wirklich?

Das ist kontextabhängig. In den Bauboom-Hochhäusern schätzen viele vor allem die unkomplizierten sozialen Kontakte und die Möglichkeit von Zusammen- und Nebeneinanderleben. Eine häufige Bewohneraussage ist: «Man kann hier relativ einfach andere Leute kennenlernen und miteinander in Kontakt kommen, wenn man will, muss aber nicht.» Aus der Nachbarschaftsforschung wissen wir, dass gerade dieses Austarieren zwischen füreinander da sein, wenn es die Situation erfordert, und sich aber auch in Ruhe lassen können, eine gute Nachbarschaft ausmacht. Diese Bedürfnisse unterscheiden sich aber je nach Lebensphase und Lebensstil.

«Wie in anderen Siedlungen sind auch bei einem Hochhaus verschiedene Nischen und Orte gefragt, in denen Menschen sich wohl fühlen, gerne verweilen oder andere treffen können.»

Eveline Althaus vom ETH Wohnforum

Können Sie ein Beispiel nennen?

Intensivere Nachbarschaftskontakte pflegen in der Regel vor allem Kinder und Jugendliche – über sie auch ihre Eltern – und langjährige Nachbarn sowie ältere Personen, die öfter Zuhause sind. In gemeinschaftliche Aktivitäten sind meist Menschen mit ähnlichen Interessen engagiert. Wenn es eine Gemeinwesen- und Quartierarbeit gibt, hat diese das Potenzial, Menschen miteinander in Verbindung zu bringen und diese Netze nachhaltig zu stärken. Da unterscheidet sich ein Hochhaus nicht von anderen Siedlungstypen.

*Eveline Althaus ist Sozial- und Kulturanthropologin und wissenschaftliche Projektleiterin am ETH Wohnforum – ETH CASE. In «Sozialraum Hochhaus» (2018) untersuchte sie Nachbarschaft und Wohnalltag in Schweizer Grosswohnbauten. Die Studie finden Sie hier.

Fotografie
Walter Mair

Ingrid Diener

Ist Wandervogel, Federer-Fan und Teetrinkerin. Hat am liebsten Sommer. Bei der ABZ für die Kommunikation im Einsatz.

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