1. Juni 2021 Ingrid Diener

Zwischen Individualität und Gemeinsamkeit

Hat die Familienwohnung ausgedient? Nein, das nicht. Doch in den letzten Jahrzehnten hat sie an Bedeutung verloren. Der Grund: Unsere Lebensentwürfe haben sich verändert.

Wie wohnen Sie? Mit Ihrer Familie? Alleine? In einer Gross-WG? Heute sind Wohnformen vielfältig – ein Grossteil der Wohnungen ist jedoch für die Kleinfamilie konzipiert. Schliesslich dominierte diese Haushaltsform unseren Lebensentwurf jahrzehntelang. In den vergangenen Jahren hat sich die Gesellschaft jedoch verändert: Einpersonenhaushalte sind gemäss Bundesamt für Statistik seit den 1990er-Jahren die häufigste Wohnform, mit einem Anteil von 36 Prozent. Darauf folgen Paarhaushalte mit und ohne Kinder mit jeweils gut 27 Prozent, Alleinerziehende mit rund 6 Prozent, Wohngemeinschaften mit rund 2 Prozent und Mehrfamilienhaushalte mit knapp 1 Prozent.

Gründe für die wachsende Beliebtheit von Ein- und Zweipersonenhaushalten sind gemäss einer Studie der Hochschule Luzern etwa die niedrige Geburtenzahl, zunehmende Scheidungen und die hohe Lebenserwartung: Pensionierte suchen nach Selbstständigkeit, Paare wollen bewusst in getrennten Wohnungen leben. Aber auch neue Formen des Zusammenwohnens entstehen, zum Beispiel durch Freundschaften, aus finanziellen Gründen oder aufgrund gemeinsamer Interessen. Gemäss ETH Wohnforum – ETH Case reagiert der Wohnungsmarkt jedoch nur zögerlich auf diese Veränderungen. Die Folge sind Herausforderungen bei der Wohnungssuche. Dennoch finden sich einige Beispiele innovativer Wohnformen. Hier stellen wir vier davon vor. Lesen Sie darüber hinaus das Interview mit Faust Lehni, Leiter Mitglieder und Wohnen bei der ABZ. Für ihn geht es bei innovativen Wohnformen um die Siedlung als Ganzes.

Den Rohbau ausgestalten

Im vergangenen Februar ging es – wie der «Tages-Anzeiger» titelte – mit «Zürichs verrücktestem Wohnexperiment» los. Als Erste erprobt die Genossenschaft Kalkbreite das sogenannte Hallenwohnen in der Siedlung Zollhaus. Die vier Wohnungen sind circa eineinhalb Stockwerke hoch, zwischen 40 und 275 Quadratmeter gross, mit Bädern und – sofern nicht von den Bewohnenden abgewählt – Küchen ausgestattet und werden so im Edelrohbau vermietet. Die Bewohnerinnen und Bewohner gestalten ihre Halle daraufhin nach den eigenen Bedürfnissen um. So waren sie im Zollhaus mehrere Wochen mit Bohren, Sägen, Schweissen und Hämmern beschäftigt.

Die grösste Halle nutzen mindestens elf Erwachsene und Kinder: manche zum Wohnen, andere zum Arbeiten. Ziel ist dabei die Minimierung des eigenen Flächenbedarfs und die Maximierung des gemeinschaftlich genutzten Raums. Dafür haben Bewohnende etwa Wohntürme auf Rollen gebaut, die bis unter die Decke reichen und ihren Privatraum markieren. Diese können bei Bedarf zur Seite geschoben werden. Dadurch entsteht mehr gemeinsam nutzbare Fläche – zum Beispiel für Feste.

Bisher war das Hallenwohnen eine halblegale Wohnform, indem Besetzer alte Fabrikhallen als Zwischenlösung bewohnten. Im Zollhaus verschmelzen nun die Freiheiten aus dieser Szene mit den Vorteilen von geregelten Mietverhältnissen.

Allein, aber nicht einsam

Eine Weiterentwicklung der Wohngemeinschaft sind Clusterwohnungen. Die sogenannten Clustereinheiten bestehen aus einem oder mehreren Privatzimmern, einem Bad und allenfalls einer Küchennische. Die Einheiten sind wiederum Teil einer grossen Wohnung, wo sich gemeinschaftlich genutzte Flächen finden wie Küche, Wohnzimmer und Balkon. Die Bewohnerinnen und Bewohner haben also die Möglichkeit, sich einerseits in ihrem Zimmer zurückzuziehen und andererseits den Austausch mit anderen zu suchen, etwa im gemeinsamen Wohnzimmer.

Die Genossenschaft Kraftwerk1 bietet in ihrer Siedlung Heizenholz Clusterwohnungen an.

Die Genossenschaft Kraftwerk1 bietet Clusterwohnungen zum Beispiel in ihrer 2012 bezogenen Siedlung Heizenholz an. Dort sind sechs kleinere und grössere Clustereinheiten um eine 136 Quadratmeter grosse Gemeinschaftsfläche angeordnet. Auch eine Terrasse teilen sich die Bewohnenden.

Seit 2012 haben sich Clusterwohnungen immer stärker verbreitet. Besonders Wohnbaugenossenschaften setzen sie um, weil sie dadurch ein breites Angebot an Wohnungstypen fördern und entsprechend Menschen mit unterschiedlichen Wohnbedürfnissen ansprechen können.

Mehrere Generationen unter einem Dach

Ein Haus, das unterschiedliche Generationen miteinander verbindet – diese Idee hat die ABZ vor zehn Jahren in der Siedlung Jasminweg 2 umgesetzt. Damit ging sie auf die Bedürfnisse von Personen ein, die sich ein verbindliches Zusammenleben mit Menschen unterschiedlichen Alters wünschen. Dieses ist geprägt von gemeinschaftlichen Aktivitäten und Nachbarschaftshilfe.

50 Personen leben heute in dieser Hausgemeinschaft. Paare mit und ohne Kinder, Einelternfamilien und Alleinstehende. Sie durchliefen ein intensives Bewerbungsverfahren, das zwei Jahre dauerte. Die Hausgemeinschaft ist als Verein organisiert.

Die Bewohnerinnen und Bewohner der Hausgemeinschaft leben in 16 Wohnungen mit 2,5 bis 4,5 Zimmern. Für gemeinschaftliche Aktivitäten stehen ein Gemeinschaftsraum mit Küche und ein Hobbyraum zur Verfügung. Familien können bei Bedarf ein Separatzimmer dazumieten, wenn sich ihre Kinder im Teenager-Alter mehr Selbstständigkeit wünschen.

Flexible Räume dank beweglicher Wände

Fokus Individualität: Das gilt für Mikrowohnungen. Wer in einer solchen lebt, benötigt nicht mehr als circa 30 Quadratmeter Wohnfläche. Häuser mit ausschliesslich solchen Kleinwohnungen werden meist von privaten Immobilienentwicklern angeboten. Zielgruppe sind hauptsächlich Mitarbeitende von Firmen, die eine temporäre Unterkunft brauchen.

Ganz besondere Kleinwohnungen entstehen zurzeit im Performativen Haus im Zürcher Kreis 6 durch die Moyreal Immobilien AG. Das Aussergewöhnliche der Wohnungen ist ihre Fähigkeit (Performanz), sich den Bedürfnissen der Bewohnenden anzupassen. Eine drehbare Wand und ein beweglicher Schrank werden etwa zum Raumteiler oder Sichtschutz. Liegende Schränke bieten Stauraum, sparen Platz und werden zum Podest für Wohn-, Arbeits- und Schlafbereich. Die Bewohnenden können damit die Wohnung je nach Stimmung unterschiedlich einrichten, viele Möbel werden unnötig. Die zwischen 25 und 57 Quadratmeter grossen Kleinwohnungen werden voraussichtlich 2022 bezugsbereit sein.

Vor dem Bau des Performativen Hauses lieferte ein ETH-Forschungsprojekt Erkenntnisse über das Wohnen in einer solchen flexiblen Wohnung. Dabei wurde untersucht, wie die Bewohnenden die beweglichen Elemente nutzten und wie anfällig diese für Störungen waren.

Fotografie
Bau- und Wohngenossenschaft Kraftwerk1, Tres Camenzind, Edelaar Mosayebi Inderbitzin, Enzmann Fischer Partner, Annett Landsmann, Reto Schlatter, Luca Zanier

Ingrid Diener

Ist Wandervogel, Federer-Fan und Teetrinkerin. Hat am liebsten Sommer. Bei der ABZ für die Kommunikation im Einsatz.

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