21. April 2020 Christine Burgener

Eine Herberge als Sprungbrett für geflüchtete Frauen

Mit einer Herberge in der Stadt Zürich bietet der Verein Wohngenuss geflüchteten Frauen ein sicheres, befristetes Zuhause. Damit soll ihnen der Sprung in ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht werden. Der ABZ-Solidaritätsfonds unterstützt das Projekt mit 50’000 CHF.

In den Gemeinschaftsräumen herrscht wuseliges Treiben, in den Räumen und Gängen hallen die Stimmen von Kindern und ihren Müttern. Im grossen Wohnzimmer unterhalten sich zwei Frauen über ihre Chancen, eine eigene Wohnung zu finden. Eine andere Frau zieht sich nach einem anstrengenden Tag zurück, um in Ruhe in ihrem Zimmer zu lernen oder einfach um sich zu entspannen. Eine junge Frau, die aus einer Notunterkunft gekommen ist, kann in ihrem Zimmer zur Ruhe kommen und neue Kräfte tanken.

Das sind Situationen, die sich seit Januar 2020 in einer Herberge in der Stadt Zürich abspielen. Sie bietet geflüchteten Frauen eine würdige, befristete Unterkunft. Das ist wichtig und richtig, weil Frauen, insbesondere geflüchtete, in der Schweiz immer noch benachteiligt werden und sexualisierter Gewalt ausgesetzt sind. Es gibt beispielsweise Gemeinden, die Frauen keinen Deutschkurs ermöglichen, «weil sie auf ihre Kinder aufpassen müssen», wie eine Bewohnerin berichtet.

«Das Ziel ist, dass möglichst viele Frauen das Angebot annehmen können.»

Annette, Sozialarbeiterin in der Herberge

Das Ziel: ein selbstbestimmter Alltag

In zwei übereinander liegenden Wohnungen finden zehn Frauen mit und ohne Kinder Platz. Die Zimmer werden zum Selbstkostenpreis zwischen 300 und 500 Franken pro Monat vermietet. Wo kein Sozialamt zuständig ist und die Bewohnerin die Miete nicht aufbringen kann, springt der Verein ein. Das ist aufgrund der oftmals prekären Lebenssituation der geflüchteten Frauen häufiger der Fall.

Die Herberge ist als Sprungbrett in ein geordnetes Leben gedacht. Deswegen ist die Wohndauer auf sechs Monate befristet. Eine Verlängerung ist jedoch möglich. «Das Ziel ist, dass möglichst viele Frauen das Angebot annehmen können», sagt Sozialarbeiterin Annette. Sie begleitet und unterstützt die Bewohnerinnen bei ihrem Weg in einen selbstbestimmten und selbstständigen Alltag.

Eine Vertreterin vom Verein Wohngenuss erklärt das Projekt an der Vergabekonferenz des ABZ-Solidaritätsfonds.

Die Nummer 26 als Glückszahl

Das Projekt wird vom ehrenamtlich tätigen und unabhängigen Verein Wohngenuss in Kooperation mit der Citykirche Offener St. Jakob getragen. Während die Kirche insbesondere die Stelle der Sozialarbeiterin finanziert, ist der Verein für Betrieb, Unterhalt und Miete verantwortlich. «Dass wir überhaupt starten konnten, verdanken wir der Unterstützung durch den Solidaritätsfonds der ABZ. Im Frühsommer 2019 hatten wir das erste Mal von der Vergabekonferenz gehört und schon im Juni konnten wir unser Projekt einreichen. Unser Dossier hatte die Nummer 26 – eine Glückszahl, wie sich herausstellte», sagt Barbara Schneider von Wohngenuss.

«Dass wir überhaupt starten konnten, verdanken wir der Unterstützung durch den ABZ-Solidaritätsfonds.»

Barbara Schneider vom Verein Wohngenuss

Vor der Vergabekonferenz am 24. Oktober im Zürcher Kulturlokal Kosmos waren die Vertreterinnen und Vertreter des Vereins Wohngenuss nervös, schliesslich hing viel davon ab: Die Verträge standen kurz vor dem Abschluss und alleine die Miete der beiden Wohnungen beträgt über 40’000 CHF im Jahr. Der Verein hatte lange überlegt, wie er das Projekt bei der Vergabekonferenz am besten vorstellen sollte. Es war nicht viel Zeit, um das Anliegen, die Ziele und die Vision eines Sprungbretts für geflüchtete Frauen mitten in Zürich zu präsentieren. Schliesslich entschieden sich die Vertreterinnen und Vertreter für ein Kartonmodell der Wohnungen und bunte Kärtchen mit Einrichtungsgegenständen und ihren Preisen. Denn dafür war ebenso aufzukommen.

Ein Vertreter des Vereins Wohngenuss beantwortet an der Vergabekonferenz des ABZ-Solidaritätsfonds Fragen zum Projekt.

Unterstützung bei bürokratischen Angelegenheiten

Im Tagesbetrieb läuft so kurz nach Beginn noch nicht alles ganz rund. Es tauchen viele Fragen auf: Werden Grundnahrungsmittel und Waschmittel zusammen gekauft? Gibt es eigene Kühlschrankfächer? Ist die Teilnahme an gemeinsamen Angeboten wie einem Abendessen einmal im Monat obligatorisch? Die Sozialarbeiterin hat also alle Hände voll zu tun. Neben der Unterstützung im Alltag geht es beispielsweise auch um die Suche nach Arbeits- oder Ausbildungsplätzen, sicheren Anschlusslösungen für das zukünftige Wohnen und Unterstützungsleistungen durch Behörden. «Damit die Bürokratie das Zusammenleben nicht zu stark prägt, plant die Sozialarbeiterin stets genügend Zeit zum Plaudern und zum zusammen Kochen ein», sagt Barbara. Der Verein Wohngenuss denkt schon über ein Sommerfest mit den Nachbarinnen und Nachbarn der Herberge nach – sobald alles noch ein wenig besser eingespielt ist, soll es stattfinden. «Natürlich ist die ABZ als Geburtshelferin der Herberge dazu auch eingeladen», sagt Annette mit Vorfreude.

Übrigens: Obwohl die Herberge heute voll belegt ist, werden immer wieder ein, zwei Zimmer frei. «Das ist Teil des Konzepts», sagt Barbara. «Und wir haben ein Kontakttelefon für geflüchtete Frauen eingerichtet, die eine Unterkunft suchen. Unter +41 76 233 89 82 sind wir erreichbar und versuchen Hand zu bieten wo möglich.»

Fotografie
Tres Camenzind, Verein Wohngenuss

Christine Burgener

Verein Wohngenuss

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