2. Juni 2020 Ingrid Diener

Hochhäuser: verpönt und doch beliebt

Der Bel-Air-Turm in Lausanne war 1932 das erste Hochhaus der Schweiz. Besonders in den 1960er-, 1970er und 2010er-Jahren wurde seither in die Höhe gebaut. Doch die Riesen sind umstritten – wieso eigentlich?

Sie prägen Stadtbilder, erhitzen Gemüter und sind mit Vorurteilen behaftet – Hochhäuser. Das erste in der Schweiz war 1932 der Bel-Air-Turm in Lausanne mit 55 Metern, das höchste des Landes ist der Roche-Turm 1 in Basel mit 178 Metern und das höchste Zürichs der Prime Tower mit 126 Metern. Letzterer übersteigt um 101 Meter die Höhe, ab der ein Gebäude im Kanton Zürich als Hochhaus gilt, nämlich 25 Meter. Diese Grenze bestimmen die Kantone, Hochhaus ist also nicht überall Hochhaus.

Sowohl der Prime Tower als auch der Roche-Turm 1 sind im letzten Jahrzehnt entstanden – einem Jahrzehnt, das international von einem Hochhausboom geprägt war. So feierten etwa The Shard in London, das One World Trade Center in New York und der Burj Khalifa in Dubai in dieser Periode ihre Eröffnungen.

Der Roche-Turm in Basel ist 178 Meter hoch.

Mit Blick in die Weite

Bis heute geprägt hat die Schweiz auch der Hochhausboom der 1960er- und 1970er-Jahre: Zwischen 1950 und 1970 wuchs die Bevölkerung um mehr als einen Viertel an, die Zuwanderung nahm zu und die Wirtschaft blühte. Folglich stieg der Bedarf an Wohnungen. «Besonders in Städten und Agglomerationsgemeinden fehlte es an Wohnraum», sagt Eveline Althaus vom ETH Wohnforum. So entstanden in dieser Zeit Wohnungen für den breiten Mittelstand, die als Inbegriff des modernen Wohnens galten und einen aussergewöhnlichen Komfort boten. Städte wie Zürich bauten ausserdem preisgünstige Wohnungen, die für Menschen mit kleinem Einkommen gedacht waren. Aus dieser Zeit stammen etwa Unteraffoltern II, Glaubten III, das Lochergut und die Hardau-Hochhäuser.

Die städtische Siedlung Lochergut im Kreis 4 hat 21 Stockwerke und wurde 1966 bezogen.

Diese Hochhäuser sind nicht mehr wegzudenken und erfreuen sich noch heute grosser Beliebtheit. Sie sind meist von weiten Flächen umgeben und der Blick kann in die Ferne schweifen. «Zudem schätzen die Bewohnerinnen und Bewohner die verkehrsfreien Aussen- und Spielräume», sagt Althaus. «Wichtig sind auch die gemeinschaftlichen Räume und ein guter Anschluss an die Nahversorgung.» Weitere positive Seiten sind die günstigen Mieten und die über die Jahre gewachsene Vernetzung mit der Nachbarschaft. Gemäss Althaus hängt die Qualität vom Wohnen im Hochhaus aber auch von der Umgebung, der Bewirtschaftung durch die Verwaltung und dem sozialen und kulturellen Leben im Quartier ab. So kann in einem Hochhaus zu leben auch negative Seiten haben – wenn dieses zum Beispiel städtebaulich und sozial im Abseits steht, die Wohnungen den Bedürfnissen nicht gerecht werden und die Häuser keine unterschiedlich nutzbaren Räume anbieten, wie etwa Gemeinschaftsräume, Spielplätze und Gewerbe.

Die Siedlung Unteraffoltern II verfügt über einen Mix aus freitragenden und subventionierten Wohnungen.

Belegungsrichtlinien gegen Segregation

Vielfach negativ ist auch der Ruf des Hochhauses: Es sei Symbol für soziale Kälte, Verwahrlosung und Anonymisierung. Dabei spielt die über die Jahre stattfindende Abwertung eine Rolle: In die Bauboom-Häuser zogen im Lauf der Jahre zunehmend benachteiligte Menschen, es entstand eine soziale Segregation. Mit Belegungsrichtlinien wird versucht, solche Entwicklungen zu verhindern. Gemäss Althaus wurde in der Siedlung Unteraffoltern II beispielsweise mit einem Mix aus freitragenden und subventionierten Wohnungen eine vielfältige Mieterschaft gefördert und so der Abwertung entgegengewirkt.
Die Forschung zeigt, dass heute in der Regel Menschen aus unterschiedlichen Generationen, verschiedenen Ländern, mit diversen Berufen und Lebensstilen in den Bauboom-Häusern wohnen. Sie bestätigen den schlechten Ruf des Hochhauses nicht, ganz im Gegenteil: Viele Bewohnerinnen und Bewohner – besonders diejenigen mit Kindern – sind gut mit ihren Nachbarn vernetzt, es bestehen gemeinschaftliche Räume und Begegnungszonen, und engagierte Bewohnergruppen setzen sich für ein friedliches Zusammenleben ein. «Klar, dass es auch soziale Ungleichheiten gibt», so Althaus. «Das Bild vom ‹problembehafteten Hochhausblock› entspricht aber meist nicht den Lebensrealitäten vor Ort.»

«Das Bild vom ‹problembehafteten Hochhausblock› entspricht meist nicht den Lebensrealitäten vor Ort.»

Eveline Althaus vom ETH Wohnforum

Klotzig, abweisend, kalt

Neben den Hochhäusern aus den 1960er- und 1970er-Jahren sind in den letzten Jahren neue Hochhäuser entstanden. Hierbei handelt es sich meist um Prestigeobjekte, die Wohnungen in den oberen Preissegmenten anbieten. Ein Beispiel sind die Bauten in der Europaallee neben dem Zürcher Hauptbahnhof – und diese müssen, wie ihre Vorgänger, Kritik einstecken: fehlende Durchmischung, klotzig, abweisend, kalt. Und auch andere Hochhausprojekte sind nicht vor Einwänden gefeit: So beklagen Anwohner den geplanten Bau der Hochhäuser auf dem Hardturm-Areal. Streitpunkte sind unter anderem die Höhe und der Schattenwurf. Auch die beiden Türme auf der Luzerner Allmend erhitzten die Gemüter: Sie seien zu dominant und würden den Blick auf den Pilatus verwehren. Mittlerweile steht die neue Überbauung.

Gemeinschaftliches Wohnen in der Vertikalen

In wenigen Jahren wird ein weiteres Hochhaus Zürich prägen. Es soll ein Gegenstück zu den renditeorientierten Bauten werden: dasjenige der ABZ auf dem Koch-Areal. Auch dieses wird wohl kritisch hinterfragt werden – die ABZ ist aber überzeugt vom Projekt. Und stimmt die Generalversammlung Projekt und Baukredit zu, können wir zeigen, dass günstiges und gemeinschaftliches Wohnen auch in der Vertikalen möglich ist.

In Zug ist mit 80 Metern das höchste Holzhochhaus der Schweiz geplant.
Das ABZ-Hochhaus auf dem Koch-Areal ermöglicht gemeinschaftliches Wohnen in der Vertikalen.

Das 28-stöckige Hochhaus und der danebenliegende Zeilenbau werden rund 200 gemeinnützige Wohnungen bieten, im Erdgeschoss sind Gewerbeflächen vorgesehen und ein Lebensmittelgeschäft findet Platz. Auf dem Sockelbau steht ein Dachgarten mit Gemeinschaftspavillon. Doch auch weiter oben finden sich Begegnungszonen: Ab dem 7. Stockwerk fördern jeweils drei miteinander verbundene Geschosse die Nachbarschaft von etwa 20 Haushalten. An der Verbindungstreppe untergebracht sind etwa Waschküchen und Projekträume. Ebenfalls laden grosszügige Eingangsbereiche zum Verweilen ein. «Die ABZ ist für ein gemeinschaftliches Wohnen im Hochhaus gut aufgestellt», sagt Althaus. «Es braucht Orte, wo sich die Menschen wohlfühlen, Mehrzweckräume und Räume, die die Bewohnerinnen und Bewohner mitgestalten können. Das Hochhaus muss sich aber auch zum Quartier hin öffnen mit Geschäften, Cafés oder Freizeitangeboten.» Ebenso spiele die Siedlungs- und Quartierarbeit eine grosse Rolle, beispielsweise beim Kennenlernen von Neuankömmlingen und dem Entstehen von Bewohnerinitiativen.

Das Hochhaus gegen Verdichtung?

Die ABZ verfolgt den Bau eines Hochhauses auch, weil es in der Stadt Zürich immer weniger bebaubare Flächen gibt. Und die Bevölkerung wächst weiter. Deshalb müssen wir vermehrt in die Höhe bauen. Hochhäuser machen für Althaus aber nur Sinn, wenn sie «sozial und ökologisch nachhaltige Siedlungen und Nachbarschaften schaffen, haushälterisch mit dem Boden umgehen und den Wohnungsmangel in Städten wie Zürich reduzieren, besonders für Menschen mit kleinem Einkommen.» Diese Anforderungen versucht die ABZ auch mit dem neuen Hochhaus auf dem Koch-Areal zu erfüllen.

Umfrage Hochhaus

Die bepflanzte Fassade von «Aglaya» soll zu einem besseren Mikroklima beitragen.

Von Pflanzenfassaden und Holzbauten

Das ABZ-Hochhaus wird frühestens 2024 stehen. Andere innovative Hochhausprojekte sind hingegen schon Realität: Mit «Aglaya» steht in Rotkreuz ein 80-Meter-Hochhaus, dessen Balkone und Dachterrasse mit vielfältigem Grün bestückt sind. Damit soll ein Beitrag zu einem besseren Mikroklima geleistet werden. Die Pflanzen reinigen und befeuchten die Luft, kühlen die Umgebung durch ihre Verdunstung und spenden Schatten – das kostet allerdings: Die Eigentumswohnungen liegen im oberen Preissegment. Das Kosten-Nutzen-Verhältnis ist umstritten, denn der Betriebsunterhalt ist in der Regel aufwändig. Zudem ist die tatsächliche Wirksamkeit solcher Fassadenbegrünungen wenig erforscht.
Wie die Zukunft aussehen könnte, zeigt sich in Zug: Hier ist mit 80 Metern das höchste Holzhochhaus der Schweiz geplant. Holz ist ein klimafreundlicher Baustoff und schneidet diesbezüglich wesentlich besser ab als Beton. Dennoch muss berücksichtig werden, dass auch beim Holzbau Beton zum Einsatz kommt. Das ist auf den ersten Blick zwar nicht sichtbar, aber für Fundament, Stabilität und Brandschutz nötig. Der Holzanteil liegt entsprechend zwischen 50 und 60 Prozent. Zudem ist der Bau von Holzhochhäusern noch wenig erforscht und birgt damit ein Risiko.

Ob nun nachhaltig, teuer, klotzig, günstig, exklusiv, anonym oder gemeinschaftlich – das Hochhaus hat, geprägt durch gesellschaftliche Entwicklungen und vergangene Erfahrungen, zahlreiche Gesichter und wird laufend weiterentwickelt.

Fotografie
Baugeschichtliches Archiv Stadt Zürich, Filippo Bolognese, Enzmann Fischer Architekten, iStock, Walter Mair, Zug Estates

Ingrid Diener

Ist Wandervogel, Federer-Fan und Teetrinkerin. Hat am liebsten Sommer. Bei der ABZ für die Kommunikation im Einsatz.

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