7. Februar 2020 Ingrid Diener

«Man muss den ‹Dinosaurier› in Stücke tranchieren»

Das zivilgesellschaftliche Engagement geht tendenziell zurück, das zeigen Studien. Cornelia Hürzeler, Projektleiterin Soziales beim Migros-Genossenschafts-Bund, empfiehlt deshalb, den Dinosaurier zu tranchieren. Sprich: Aufgaben zu verteilen.

Die Zivilgesellschaft ist tragender Pfeiler einer funktionierenden Gesellschaft. Gemäss Ihrer Studie «Die neuen Freiwilligen» hat sie eine kritische Funktion gegenüber Staat und Markt. Welche sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Aufgaben der Zivilgesellschaft?

Die Zivilgesellschaft erfüllt sehr viele Funktionen für eine funktionierende Gesellschaft. Sie bildet einerseits den gesellschaftlichen Zusammenhalt, zum Beispiel durch Freiwilligenarbeit, und ist andererseits Schule der Demokratie. In einem Verein werden die Kompetenzen und Tugenden gelernt, die zu den Grundwerten unseres politischen Systems gehören. Die Vereine bilden also ein Stück weit das politische System der Schweiz ab. Die Zivilgesellschaft bündelt aber vor allem auch die Interessen ihrer Mitglieder und dient so als Vergrösserungsglas für die Anliegen der Gesellschaft. Will die Politik wissen , wo der Schuh drückt, lohnt sich der Blick in die Zivilgesellschaft. Im Gegensatz zu Deutschland versteht sich die Zivilgesellschaft in der Schweiz weniger als Konkurrentin zum Staat, sondern als Ergänzung und insbesondere als Motor und Ort der Innovation. Oft entstehen gute gesellschaftliche Lösungen in der Zivilgesellschaft und finden dann Eingang in die Regelstrukturen des Staates. Eine starke Demokratie ist zwingend auf eine funktionierende Zivilgesellschaft angewiesen.

«Die Zivilgesellschaft dient als Vergrösserungsglas für die Anliegen der Gesellschaft.»

Sehen Sie die ABZ als Teil der Zivilgesellschaft oder eher als Teil des Marktes oder Staates?

Als Genossenschaft gehört die ABZ in der Schweiz zur Zivilgesellschaft. Im Gegensatz aber zu einem Verein oder zu einer Stiftung agieren Genossenschaften hauptsächlich im Interesse ihrer Mitglieder und weniger für einen ideellen Zweck. Die Genossenschaft verfolgt meistens einen wirtschaftlichen Nutzen, sie ist personen- und kapitalorientiert. Der Verein ist hingegen nur personenorientiert. Letztlich ist es wohl auch eine Frage der Wirtschaftsmacht, ob eine Genossenschaft eher zur Zivilgesellschaft oder zum Markt gehört. In den meisten Ländern werden Genossenschaften nicht der Zivilgesellschaft zugeordnet, sondern dem Wirtschaftsbereich. Auch wenn eine Genossenschaft vor allem einen Wirtschaftszweck zugunsten ihrer Mitglieder im Fokus hat, wirkt sie weit über den Zweck hinaus, indem zum Beispiel guter Wohnraum und Boden der Spekulation entzogen wird. Eine Genossenschaft ist eine hervorragende Möglichkeit, wirtschaftliches Handeln mit gelebter Gemeinschaftlichkeit zu verbinden. Insofern hat die ABZ eine Verpflichtung, Gemeinschaft und Solidarität zu fördern. Diese Gemeinschaftlichkeit hat eine starke Wirkung nicht nur für die Genossenschaftsmitglieder, sondern auch für die Umgebung wie etwa die Nachbarschaft im Quartier.

Wo sehen Sie zivilgesellschaftliches Engagement, das wirklich etwas bewegt?

Ich sehe die Wirkung sowohl im Kleinen als auch im Grossen. Eine kleine Caring-Community in einem Quartier bewirkt sehr viel für den Zusammenhalt – auch wenn sie die politische Agenda nicht beeinflusst. Natürlich haben neue Bewegungen wie die Operation Libero oder Fridays for Future die politische Landschaft stark und nachhaltig geprägt. Aber ich sehe Nachhaltigkeit auch in der vielfältigen Vereinslandschaft und im nachbarschaftlichen Zusammenleben. Und vor allem sehe ich ein grosses Potenzial in spontanen, informellen Gruppierungen, die sich um bestimmte Themen formieren.

«Vor allem sehe ich grosses Potenzial in spontanen, informellen Gruppierungen, die sich um bestimmte Themen formieren.»

Sie nennen die Fridays-for-Future-Bewegung: Letztes Jahr gingen die Jugendlichen immer wieder auf die Strasse. Es gab den Frauenstreik und die Anzahl Demonstrationen in Schweizer Städten nimmt zu. Zeichen eines Umschwungs?

Ich glaube, dass hier Megatrends wie Individualisierung, Globalisierung und Digitalisierung auch auf die Art und Weise unseres politischen Engagements einwirken. Die traditionellen Parteien haben es zunehmend schwieriger, Mitglieder zu rekrutieren. Neue informelle Bewegungen mit grosser Flexibilität und wenig formalisierten Strukturen tragen dem gesellschaftlichen Wandel mehr Rechnung und holen diejenigen Leute ab, die sich einfach für eine Sache einsetzen wollen und sich nicht einer Organisation verpflichtet fühlen. Das ist auch in der traditionellen Freiwilligenarbeit beobachtbar: Menschen engagieren sich für ein Thema und wollen aktiv werden, egal in welcher oder für welche Organisation sie das machen. Vielleicht gründen sie auch gleich ihre eigene Gruppe.

Der Klima- und der Frauenstreik haben zahlreiche Menschen, auch viele Junge, auf die Strasse gebracht. Wie haben sie das geschafft?

Einerseits helfen hier sicher die sozialen Medien. Diese ermöglichen eine breite und kostengünstige Mobilisierung. Andererseits merken die Menschen gerade beim Klimawandel, dass die politischen Diskussionen nicht die von der Wissenschaft geforderte Dringlichkeit haben. Im Gegensatz zu anderen Themen sind Lösungen zum Weltklima jedoch nicht aufschiebbar. Wir haben tatsächlich einen Klimanotstand – statt Klimawandel – und das mobilisiert Jung und Alt.

Sie sagen, dass in Vereinen und Organisationen ein Umdenken stattfinden muss, um mehr Freiwillige zur Teilnahme zu motivieren. Sie sprechen von flexibleren Aufgaben. Wie könnten diese aussehen?

Ein Vereinsvorstand muss nicht alles selber tun, er kann die Aufgaben auch auf mehrere Schultern verteilen und zum Beispiel Mitglieder oder Junge ausserhalb des Vereins für Aufgaben ansprechen. Man muss den «Dinosaurier» manchmal in Stücke tranchieren. Wieso nicht den Aufbau oder die Pflege der Vereinswebsite jemandem übertragen, der oder die das gerne macht? Oder muss immer der Vorstand das Rahmenprogramm zur Mitgliederversammlung planen und durchführen? Man kann dies perfekt als kleines Projekt an eine Jugendgruppe übergeben. Echte Partizipation gelingt aber nur, wenn man bereit ist, loszulassen und Platz zu machen. Wer immer meint, er wüsste es besser, dem gelingt es nicht. Dann sind die Freiwilligen schneller weg, als man das Wort aussprechen kann.

«Echte Partizipation gelingt aber nur, wenn man bereit ist, loszulassen und Platz zu machen.»

Cornelia Hürzeler

Die ABZ verfügt über ein traditionsreiches Freiwilligensystem mit Siedlungskommissionen und Aktivgruppen. Zudem haben wir eine gemischte Mieterschaft mit unterschiedlichen Ressourcen und Fremdsprachigkeit. Wie können möglichst viele in eine Gemeinschaft integriert werden?

Es ist wichtig, dass Siedlungskommissionen und Aktivgruppen wirklich heterogen zusammengesetzt sind. Eine Wohnsiedlung bietet die grossartige Möglichkeit, über gemeinsame Themen hinweg miteinander zu agieren. Es gibt Themen, die alle betreffen, wie die Bewirtschaftung der Waschküche oder das Gelingen des jährlichen Genossenschaftsfestes. Hier können die Arbeiten gut verteilt werden. In der Hausgemeinschaft 55+ in der ABZ-Siedlung Ruggächern mussten sich die Mietenden im Mietvertrag verpflichten, sich zwei Stunden pro Monat für die Hausgemeinschaft zu engagieren – ob im Kaffee, in der Bibliothek, in der Bewirtschaftung der Gästezimmer oder in einem selbst eingebrachten Feld. Das fand ich sehr innovativ. Denn es geht nicht darum, dass immer die gleichen Freiwilligen angesprochen werden, sondern alle Mietenden eine gemeinsam geteilte Verantwortung haben.

Die Digitalisierung gibt dem freiwilligen Engagement neue Chancen. Welche Plattformen oder Apps haben aus ihrer Sicht am meisten Potenzial?

Ich gebe jenen Plattformen und Apps am meisten Chancen, die einfach und kundenfreundlich aufgebaut sind. Viele Plattformen haben den Hang zur Komplexität, sie wollen mit einer App alles abdecken. Daran glaube ich nicht. Die Leute wollen digital schnell ans Ziel kommen; wenn ihnen das nicht gelingt, sind sie sofort weg. Zum zweiten glaube ich an die Kraft der lokalen Verankerung. Je globalisierter unsere Umwelt ist, desto wichtiger wird die lokale Identität – Stichwort Glokalisierung. Meine Erfahrung ist, dass erfolgreiche Plattformen entweder sehr einfach sind und sich auf wenige Funktionen beschränken und/oder sie haben den Stallgeruch des Lokalen. Ich wäre wohl nicht festes Mitglied einer nationalen Caring-Community, aber sofort dabei, wenn es in meinem Quartier oder meiner Siedlung eine Nachbarschaftsplattform gäbe.

«Engagement ist ein Lebenskonzept von der Wiege bis zur Bahre.»

Wer kaum Zeit hat, sich freiwillig zu engagieren, aber dennoch etwas tun möchte – was sind einfach umzusetzende Möglichkeiten? Sie sprechen in einem Interview zum Beispiel von «Zooniverse», wäre das eine Option?

Zooniverse ist ein internationales Citizen-Science-Programm, wo Freiwillige digital der Wissenschaft helfen. Ich selber zähle zum Beispiel anhand digitaler Fotos Pinguine in der Antarktis und helfe damit der Erforschung des Klimawandels. Oder ich suche – auch digital – Küsten nach Plastikmüll ab, damit Naturwissenschaftlerinnen Meeresströmungen besser verstehen können. Das sind natürlich gute Möglichkeiten, etwas zu tun, im Tram, im Zug oder auf dem Sofa. Gleichzeitig zeigt die Freiwilligenforschung, dass sich zwar rund 22 Prozent der Freiwilligen digital engagieren, aber nur 2 Prozent rein digital. Ich glaube, Engagement ist ein Lebenskonzept von der Wiege bis zur Bahre. Manchmal engagieren wir uns in einem Verein oder digital oder in der Nachbarschaft. Und manchmal machen wir auch nichts, weil es gerade nicht ins Leben passt. Wichtig ist, dass man den Leuten eine Auswahl an Einsatzmöglichkeiten bietet, auch ganz kleine Häppchen, man muss ein Buffet anrichten und den Leuten erlauben, sich das zu nehmen, was gerade zu ihrer Lebenssituation passt.

In Ihrer Studie «Die neuen Freiwilligen» sagen Sie, dass man statt von Freiwilligenarbeit von Partizipation sprechen soll. Ist Freiwilligenarbeit kein zeitgemässer Begriff mehr?

Ich glaube, Freiwilligenarbeit ist ein Teil von gesellschaftlichem Engagement oder Partizipation, aber eben nicht alles. Es gibt viele Formen und Möglichkeiten, sich für andere Menschen oder für ein spezifisches Anliegen einzusetzen – und nicht alles entspricht den «Standards» von Freiwilligkeit. Zum Beispiel gehört die Angehörigenbetreuung und Care-Arbeit per Definition nicht zur Freiwilligenarbeit. Aber es ist ein riesiges gesellschaftliches Engagement, das dafür sorgt, dass ältere Menschen gut betreut sind und unser Sozialstaat nicht kollabiert. Ich glaube, wir brauchen dringend einen erweiterten Begriff von Freiwilligenarbeit, der auch dem gesellschaftlichen Wandel mehr Rechnung trägt und diejenigen abholt, die mehr Mitsprache und Selbstbestimmung im Engagement suchen.

Ingrid Diener

Ist Wandervogel, Federer-Fan und Teetrinkerin. Hat am liebsten Sommer. Bei der ABZ für die Kommunikation im Einsatz.

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