10. Februar 2022 Ariel Leuenberger

Muss es immer ein Ersatzneubau sein?

Viele ABZ-Siedlungen sind fast 100 Jahre alt. Da stellt sich die Frage: abreissen und neu bauen oder sanieren? Laut Anna Schindler, Direktorin Stadtentwicklung Zürich, kann beides zu Zielkonflikten führen.

Zürich wächst, die Mieten steigen. Die Bevölkerung wünscht sich mehr günstigen Wohnraum, doch die freien Flächen sind fast alle verbaut. Darum kann Wachstum nur noch im Bestand erfolgen – oft werden bestehende Häuser abgerissen und durch grössere Gebäude ersetzt. Auch die ABZ plant Ersatzneubauten, etwa für die Siedlungen Kanzlei, Leimbach und Herrlig. Solche Ersatzneubauten bieten häufig Wohnraum für doppelt so viele Menschen. Doch sie können zu Zielkonflikten führen: Mehr günstiger Wohnraum wird verlangt, es soll aber möglichst keine graue Energie verbraucht werden. Ökologische Gebäude und effiziente Grundrisse sind erwünscht, aber bitte ohne Mietzinserhöhung.

Drittelsziel kaum ohne Ersatzneubauten

Um mehr günstigen Wohnraum zu schaffen, hat die Bevölkerung der Stadt Zürich das Drittelsziel angenommen: Bis 2050 soll ein Drittel aller Mietwohnungen gemeinnützig sein. Kann dieses Ziel ohne Ersatzneubauten erreicht werden? Anna Schindler, Direktorin Stadtentwicklung Zürich, meint: «Das ist nicht möglich – schon nur die heutige Quote von 25 Prozent zu halten, ist sehr schwierig, weil die Bautätigkeit in der Stadt so hoch ist. Wir müssen im Bestand wachsen.»

«Die Städte sind bereits sehr gut erschlossen. Auf der grünen Wiese neu zu bauen, vernichtet unter Umständen mehr graue Energie.»

Anna Schindler ist Direktorin der Stadtentwicklung Zürich. Als Kompetenzzentrum für nachhaltige Stadtentwicklung ist ihre Abteilung an den Schnittstellen zwischen Politik, Wirtschaft, Bevölkerung und Verwaltung tätig.

Wachstum vor allem in den Städten

Wo dieses Wachstum stattfinden soll, definiert der kommunale Richtplan, der 2021 von der Bevölkerung angenommen wurde. Er zeigt auf, wo Potenziale zur Verdichtung bestehen und wird von den Behörden etwa bei Umzonungen umgesetzt. Wachstum, so der breite Konsens im Kanton, soll vor allem in den Städten erfolgen. Anna Schindler erklärt: «So wollen wir die Zersiedelung stoppen. Das ergibt auch ökologisch und wirtschaftlich Sinn, denn die Städte sind bereits sehr gut erschlossen, mit öffentlichem Verkehr, Schulen, Arbeitsplätzen. Auf der grünen Wiese neu zu bauen, vernichtet unter Umständen mehr graue Energie, denn dies generiert mehr Mobilität. Langfristig dürfte eine Verdichtung an zentralen Orten mit einer guten ÖV-Erschliessung durch die Reduktion von Mobilität mehr als aufgewogen werden.»

Aufwändig saniert und nachverdichtet: denkmalgeschützte ABZ-Siedlung Entlisberg 1.

Ersatzneubau mit deutlich mehr Wohnraum: ABZ-Siedlung Balberstrasse 2.

Die Menschen nicht vergessen

Der kommunale Richtplan sieht vor, dass vor allem an Orten verdichtet werden soll, die gut erschlossen sind und klimatisch günstig liegen. Damit die Erneuerung sorgfältig und umsichtig geschieht, begleitet die Stadtentwicklung die Projekte mit einem sozialräumlichen Monitoring. Die Erkenntnis: «Das grösste Potenzial haben Gebiete mit alter Bausubstanz und hohem Erneuerungsbedarf», so Anna Schindler. «Hier leben aber auch Menschen mit wenig Einkommen, vulnerable Bevölkerungsgruppen, mit denen sorgfältig umgegangen werden muss. Hebel hat die Stadt etwa, wenn Aufzonungsgesuche oder Baurechtsverträge vorliegen. Viele Eigentümerinnen sind auch sonst dialogbereit und offen. Etwa die ABZ: Sie geht vorbildlich vor.»

Bewohnerinnen und Bewohner miteinbeziehen

Die ABZ geht die Planung ihrer Ersatzneubauten umfassend und frühzeitig an. Einerseits lässt sie Siedlungen mit sehr günstigen Mieten länger bestehen als ursprünglich geplant. So etwa die zentralen Siedlungen Ottostrasse und Wipkingen. Und sie bezieht die Bewohner/innen in den Erneuerungsprozess mit ein, wie aktuell im Herrlig. Andererseits macht sie sich Gedanken zu möglichst ökologischen Bauten, etwa indem sie die graue Energie genau bilanziert und zum Heizen nur noch erneuerbare Energie einsetzt. Und dank den vielen Siedlungen in der Stadt kann die ABZ ihren Mitgliedern eine Zwischen- oder Ersatzlösung bieten, sollte ihre Siedlung erneuert werden.

Sehr günstiger Wohnraum mitten in der Stadt: ABZ-Siedlung Wipkingen, Bezugsjahr 1924.

Die lange Sicht zählt

Aber muss es immer ein Ersatzneubau sein? Können nicht auch bestehende Siedlungen saniert und verdichtet werden? Anna Schindler sagt, das sei bei jedem Projekt genau abzuwägen: «Hier gilt es, die lange Sicht einzunehmen und mindestens 50 Jahre in die Zukunft zu schauen. Sanieren funktioniert dann im Sinne des Drittelsziels und im Sinne der grauen Emissionen nicht immer: Es entsteht nur wenig neuer Wohnraum und trotzdem wird graue Energie verbaut. Das muss man immer differenziert anschauen und die Zielkonflikte zwischen Ökologie, Wachstum und günstigen Mieten abwägen.»

Fotografie
Reto Schlatter, Andrea Helbling, zVg

Ariel Leuenberger

Mag Landkarten, Espresso und fremde Städte. Fährt am liebsten Velo. Leitete die Kommunikation der ABZ-Geschäftsstelle.

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